Der Garten der Hoffnung

Wir lebten als Familie mit 5 Kindern und den Eltern in einer sehr kleinen Laden-Wohnung in 1.5 Räumen, die so voll gestellt war, dass es nicht den kleinsten Winkel gab, in dem wir einmal allein sein konnten. Jeder hatte seine festen Pflichten, die vom strengen Vater genau überwacht wurden. Er war als Inhaber eines Tante-Emma-Ladens den ganzen Tag zu Hause und wir suchten jede Gelegenheit, nach Draußen zu kommen, um ein bisschen Freiheit zu erleben. In unserer Straße gab es nur noch wenige Häuser, ringsum waren Ruinen, unsere Welt war grau und schmutzig. Mein Bereich war der Haushalt, denn als ältestes Mädchen war mein Platz in der Küche. So entwickelte jeder von uns kleine Inseln, in denen wir unsere Fantasie leben konnten, unbeobachtet waren oder mit Freunden in den zerbombten Häusern Fluchtpunkte fanden. Unsere Mutter war viel krank, und durch ihre Schwäche und die notwendigen Pflichten für uns Kinder kaum existent, und für unsere kindlichen Gefühle unnahbar.
Ich nutzte jede Gelegenheit, in irgend einem Treppenhaus zu verschwinden, mich auf eine Stufe zu setzen und Papier voll zu schreiben, das ich fand oder in unserem Laden klaute. Diese schrieb ich voll mit kindlichen Gedanken, ganz kleinen Geschichten und ernährte mein Innenleben. Meist zerriss ich hinterher diese kleinen Ausdrücke meiner Kinderseele, weil sie niemand finden durfte.
Mein ältester Bruder fand einen anderen, sehr ungewohnten Weg, mit seiner Einsamkeit umzugehen. Auf unserem Schulweg kamen wir an einer S-Bahn vorbei, die vom Fußweg durch einen schmalen Streifen von der Straße getrennt war. Wir beobachten fast täglich, dass sich dort etwas veränderte. Holzstücke waren um ein Stück von ca 20 qm. in die Erde gesteckt und mit Schnur als Abgrenzung verbunden. Und nach und nach wurde es grün dort. ganz kleine Pflanzen wuchsen aus der schmutzigen Erde, sie steckten ihre Köpfchen raus und bald gab es kleine unscheinbare Blüten. Wir flüsterten abends im Bett heimlich über diesen Zaubergarten und gingen morgens etwas früher zur Schule, um zu sehen, ob sich etwas verändert hatte. Es blieb zunächst ein Geheimnis.
Eines Tages nach dem Unterricht sagte mein ältester Bruder: "Gitti, kannst Du etwas ganz für Dich behalten?
Ich möchte Dir etwas zeigen, vielleicht kannst Du mir helfen?" Und er führte mich zu diesem kleinen Fleckchen Erde, wo er mir seinen Fluchtpunkt zeigte.. Ich stand stumm und tief berührt sah ich diesen liebevollen Garten an, aus fast toter Erde wuchsen die ersten Blümchen, Farbe in all dem Grau. Meine Tränen liefen , ich fühlte eine tiefe Liebe in mir, nahm meine Bruder Lothar in den Arm und dann weinten wir Beide.
Wir setzten uns auf einen Stein, immer noch umarmt, und er bat mich, aus den Ruinen kleine Pflanzen auszugraben, alles, was ich finden konnte und ihm in seinem Garten zu helfen. Nun war es unser gemeinsamer Ort, an dem wir uns trafen und dieses unvergessliche Gefühl von Freude und Verbundenheit entdeckten. Einen ganzen Sommer lebten wir mit diesem Wachsen und Werden und auch in uns wuchs etwas, was Hoffnung machte und Wurzeln der Liebe in uns legte.
An einem Spätsommertag mit starkem Regen und einem schlimmen Gewitter war dieser Ort verschwunden.
Auf unserem Schulweg am nächsten Morgen sahen wir die Zerstörung, hielten uns im Arm und weinten.
Wir beschlossen, an diesem Tag, die Schule zu schwänzen und gingen in einen kleinen Park, um ungestört unseren Schmerz zu teilen. Der Garten blieb als Symbol des unzerstörbaren Liebe ein Leben lang in uns und trug uns durch manche Krise.
Kommentare (3)
"Dieses unvergessliche Gefühl von Freude und Verbundenheit" - wenn die Eltern, aus welchen Gründen auch immer, versagen, wie gut ist es dann, wenn die Geschwister oder mal ganz fremde Menschen es Einer/Einem bringen können. Kindheit gerettet, das ganze Leben gerettet. Schön.
Mit Grüßen
Christine
Liebe Malina,
eine sehr intensive Kindheitserinnerung hast Du hier festgehalten, die sehr berührt.
Zusammen mit Deinem Bruder hast Du Dir, wenn auch nur für eine kurze Zeit. die Sterne des Glücks und der Hoffnung vom Himmel geholt. Sehr schön geschrieben...
Viele Grüße
Rosi65
Liebe Malina,
schmerzhafte Erfahrungen prägen ganz besonders und ihr habt euch einen kleinen Garten Eden angelegt. Das ist sehr berührend.
Eure Trauer ist gut nachvollziehbar, als euer Paradies zerstört wurde. Wie schön ist aber, dass euer Verhältnis zueinander ein Leben lang hält oder hielt).
Dankeschön, dass du deine Erinnerung mit uns geteilt hast. Ich habe sie gerne gelesen.
Herzliche Grüße von
Ingrid