"Ching Ling, die Fliege", von Wolfgang Borchert. Warum? Weil es eine so schöne Geschichte ist. Also heute nichts von mir als Autor...


Sie finden, das ist ein zu schöner Name für eine simple Stubenfliege?
Oh, dann muss ich Ihnen erzählen, wie die Fliege Ching Ling zu ihrem Namen gekommen ist, und Sie werden ihn dann auch zumindest ganz originell finden. Hören Sie bitte.

Haben Sie schon mal im Gefängnis gesessen? Verzeihung, natürlich nicht! Aber ich kann Ihnen versichern, daß es gar nicht so schwer ist, hineinzukommen. Das Umgekehrte, nämlich das Herauskommen, pflegt sich im allgemeinen viel schwieriger zu gestalten. Wie ich bei der Verhandlung erfuhr, sollte ich in einem dem Alkoholrausch nicht unähnlichen Zustand irgendwo, irgendwann und über irgendwen eine faule Bemerkung gemacht haben. Das soll man nie tun. Hamlet mußte auch daran glauben, dass im Staate Dänemark etwas faul sei.
Hamlet durfte das auch nicht tun, wo er doch - na, das ist jetzt egal. Wichtig ist im Moment, daß Sie erfahren, warum ich die Fliege Ching Ling nannte.

Ich hockte unter den niederschmetternden Anklagen des Gerichtes völlig zusammengebrochen, umwogt von undurchdringlichen Nebeln seelischer Düsterkeit, mit leerem Magen und angezogenen Knien in meiner Zelle und stierte mit geradezu fakirhafter Gelassenheit gegen eine der schmucklosen Wände, als plötzlich unmittelbar vor meinen verfinsterten Augen eine kleine, ganz gewöhnliche Stubenfliege an der Wand saß. Vielmehr sie stand, denn eine Fliege kann sich ja gar nicht setzten. So plötzlich war sie da wie ein Tintenklecks im Matheheft.
Blitzschnell erinnerte ich mich der grauen Vorzeit, in die die Tage meiner Kinderstube einmal gefallen sein müssen, und ich fragte sie höflich, womit ich ihr dienen könne.

Sie nahm gar keine Notiz von mir und strafte mich mit einer Verachtung, wie es eben nur eine Fliege kann. Wußte sie von meinem Fall? Aber nein - sie hatte sich diese ruhige Stelle nur erwählt, um sich ein paar Minuten ungestört der kosmetischen Pflege hingeben zu können, und dabei lassen sich die Damen im allgemeinen nicht gerne stören. Ich war aber trotzdem nicht Kavalier genug, um artig wegzusehen, sondern ich sah ihr ganz ungeniert zu.
Und mein Fliegenfräulein schien sich ihrer Reize durchaus bewußt zu sein; denn sie ließ mich wortlos gewähren, und schüttelte nur einmal kurz und verächtlich mit den Schultern. Sie fuhr nun mit einigen ihrer Beine zärtlich unter den gläsernden Flügeln und strich sie sorgsam glatt - so wie ungefähr eine Tänzerin ihr durchsichtiges Ballettröckchen zurechtstreicht - aber natürlich nicht mit den Beinen. Nachdem sie sich durch einen schnellen Ruck ihres merkwürdigen Kopfes davon überzeugt hatte, daß die Flügel nach dem letzten Chic und gut auf Taille saßen, wandte sie sich eifrig  ihren Füßen zu, mani- und pedikürte mit einer Intensität drauflos, als ob sie heute noch einen Fliegenbaron oder einen Brummer betören müßte.
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Verflixt, ich muss gestehen, daß mir der helle Angstschweiß ausbrach bei ihrer Verenkungen, denn ich fürchtete jeden Augenblick, daß sie sich den Kopf aus dem Gelenk drehen würde - und was ist eine Fliege ohne Kopf?
Nachdem sie sich das kurze Haupthaar energisch mit dem rechten Vorderfuß zurüchgestrichen hatte, nahm sie den Kopf zwischen die beiden Vorderbeine und fing an, ihren ohnehin schon stecknadelschlanken Hals zu massieren, daß mir vor Spannung der Atem wegblieb.
Nachdem sie sich die Wimpern gründlich ausgebürstet hatte, zog sie die Brauen noch einmal sorgfältig nach, wobei sie es doch nicht unterlassen konnte, mir einen kleinen koketten Seitenblick zuzuwerfen. Und dann, ein Zittern ging durch ihren Körper - anscheinend puderte sie sich noch einmal über -, dann war sie fertig und spazierte selbstgefällig einige Schritte vor meiner Nase auf und ab.

Ich weiß nicht, wie es kam - aber das muß mich irgendwie gereizt haben. Ist es nun ein uralter, typisch männlicher  Wesenszug, ist es der Jagdtrieb oder ist es nur ein Rückfall in die Flegeljahre? Jedenfalls nahm meine Hand bei dem herausfordernden Gebaren der Fliege unbewußt die bekannte, charakteristische Haltung zum Fliegenfangen an und schob sich mit Vorsicht näher an das scheinbar ahnungslose Opfer heran.
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"So, wie man mich gefangen hat, werde ich dich jetzt fangen, du, winzige Fliege, ich will auch mal Schicksal spielen. Ich will dein Schicksal sein, und gleich werde ich über Tod und Leben entscheiden"..
Als meine Hand nun plötzlich gottähnlich zugreifen wollte, tappte sie genarrt ins Leere - und der kleine schwarze Tintenklecks saß, als ob nichts geschehen wäre, nur wenige Zentimeter höher an der Wand, gerade so hoch, daß ich ihn nicht mehr erreichen konnte.

Resigniert wollte ich wieder in meinen Stumpfsinn zurückfallen, da durchfuhr mich wie ein Blitz eine grauenhafte Beklemmung: Hatte die Fliege nicht eben gegrinst und mir mit ihrem blödsinnigen Kopf nachsichtig zugenickt? Gerade wollte ich ihr meinen Stiefel mitten in das höhnische Gesicht schleudern, da sprach sie mich an - mit etwas dünnen und sehr sachlichen Stimme, der aber doch eine gewisse Lebensweisheit nicht fehlte (sie erinnerte mich an meinen Religionslehrer):
"Siehst du", sagte sie, "du wolltest mein Schicksal sein und jetzt bin ich dir entwischt, du Dummkopf! Man muß nämlich über sein Schicksal stehen, wenn es auch nur wenige Zentimeter sind, gerade so viel, daß es einen nicht mehr erreicht und in die Tiefe reißen kann. Begreifst du das? "
"Du hast mich ausgelacht, Fliege!", brauste ich auf.
"Das ist ja eben", antwortete sie kühl, "man muss über sein Schicksal lächeln können. Siehst du, du Einfallspinsel, und dann entdeckt man, daß das Leben viel mehr Komödie als Tragödie ist!"

Sie setzte sich in Positur, nickte mir noch einmal flüchtig zu, und damit war sie auf und davon - so plötzlich, wie sie gekommen war.

Ich habe lange darüber nachgedacht, und ich habe gefunden, daß die Fliege recht hat: Man muß über sein Schicksal stehen!
Ich habe noch oft an meine kleine Fliege gedacht, die eir ein Sonnentäubchen in meine Dunkelheit geflogen war, und ich habe ihr nachträglich noch einen Namen gegeben.
Ich habe sie Ching Ling genannt. Das ist chinesisch und heißt: Die glückliche Stimmung


Autor: Wolfgang Borschert
Quelle: "Humor des 20.Jahrhunderts", ausgewählt von Heinrich Maria Ledig Rowohlt
Bild oben: Deutschlandfunk-Kultur



 


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Kommentare (2)

Ernest

Oh, ich mag Borchert und diese schöne Geschichte, die eine wichtige Lebens-Weisheit vermittelt. 
Liebe Grüsse. Ernest 


PS: Du hast den Autor Borchert im Titel erwähnt. Noch besser wäre, ihn anschliessend an seinen Text zu setzen.  

Aurora borealis

@Ernest  

Es freut mich sehr, dass auch andere User solchen Humor schätzen.
Die meisten Menschen erwarten in der Regel heitere Formen des Humors, und wenige kommen mit schwarzem/ makabrem Humor, oder mit politischen Satire, mit Ironie oder bitterem Humor zurecht - denn, die meisten wollen einen sofortig entstehenden erheiternden Zustand erleben.

Danke für den Tipp - mache ich gleich.
Gruß


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