Der Spiegel

Der Regen prasselte unaufhörlich auf die gläsernen Dächer der Großstadt. Unten, zwischen den verregneten Straßen und dem pulsierenden Leben, huschten Menschen mit gesenktem Blick von einem Ort zum nächsten. Keiner bemerkte das kleine Wesen, das sich in einer Ecke zusammengekauert hatte. Ein Hund, abgemagert, mit traurigen Augen, die die Welt zu durchdringen schienen.
Sofia, eine junge Frau auf dem Heimweg von der Arbeit, blieb stehen. Sie hatte den Hund gesehen. Ihre Schuhe platschten durch die Pfützen, während sie vorsichtig näher trat. Die Augen des Tieres trafen ihre, und für einen Moment war es, als hätte die Zeit angehalten. Da war nicht nur Leid in diesen Augen, sondern eine stumme Anklage.
„Warum?“ flüsterte Sofia, ohne zu wissen, ob sie den Hund oder sich selbst fragte.
Ein alter Mann, der auf einer Bank in der Nähe saß, lachte bitter. „Warum wir es zulassen? Weil wir vergessen haben, dass sie fühlen wie wir. Weil wir denken, ihr Schmerz sei weniger wert als unserer.“
Sofia sah den Mann an. Sein Gesicht war von Falten durchzogen, seine Augen müde, aber klar. „Aber das stimmt doch nicht. Jeder weiß doch, dass Tiere leiden können.“
„Wissen, ja“, sagte der Alte. „Aber zwischen Wissen und Handeln liegt ein tiefer Abgrund. Es ist einfacher, wegzuschauen. Einfacher, zu glauben, dass wir wichtiger sind. Dass ihr Leid der Preis für unseren Komfort ist.“
Sofia spürte, wie sich ein Knoten in ihrer Brust zusammenzog. Sie kniete sich hin und streckte dem Hund vorsichtig die Hand entgegen. Er zögerte, doch schließlich leckte er zaghaft ihre Finger.
„Aber warum tun wir das dann?“ fragte sie leise, fast mehr zu sich selbst.
Der Alte antwortete nicht sofort. Er holte eine zerkratzte Taschenuhr hervor, öffnete sie und betrachtete das Bild darin – eine jüngere Version von ihm mit einem Hund an seiner Seite. „Weil wir Angst haben, in ihren Augen den Spiegel zu sehen. Und darin zu erkennen, wer wir wirklich sind.“
Sofia nahm den Hund an sich. Sein zitternder Körper drückte sich gegen ihren, und in diesem Moment fühlte sie es – das, wovor die Menschen so oft weglaufen: Verantwortung.
Sie hob den Blick und sah, wie die Menschen weiter hasteten, ohne stehenzubleiben, ohne zu sehen. Doch Sofia wusste: Sie würde nicht mehr wegschauen.
Der Regen hörte auf, und die Wolken brachen auf, ein Schimmer von Sonnenlicht fiel auf die Straße. Ein Neuanfang – für den Hund, für Sofia, vielleicht sogar für mehr.
Kommentare (2)
So etwas Trauriges, und gleichzeitig Schönes, habe ich sechs Mal in meinem erwachsenen Leben erlebt. Mal war das ein Hund, Mal eine Katze. Manches hatten sie mir schwieriger gemacht, dafür Unmengen von Liebe und Vertrauen geschenkt. Jetzt fühle ich mich zu müde, mir ein Tierchen mal wieder anzuschaffen, bin aber froh, dass ich ihnen immer wieder in die Augen schauen konnte.
Mit Grüßen
Christine
Liebe Doris,
eine berührende Geschichte, die leider nur allzu oft die nackte Realität ist. Selber habe ich es auch schon erlebt, nur konnte ich nicht einschreiten, weil ich im Reisebus mit einer Gruppe saß, der seinen Weg nahm.
Noch heute sehe ich vor meinem inneren Auge dieses wunderschöne Tier (ich tippte auf einen Münsteraner oder ähnliche Rasse). Er schaute verzweifelt in jedes vorbei fahrende Auto in der Hoffnung, seine Menschen holen ihn ab. Ich kann es einfach nicht vergessen, obwohl dieses wohl schon über 20 Jahre her ist.
Diese Verantwortungslosigkeit ist entsetzlich und nicht zu entschuldigen.
Du hast deinen Finger auf eine Wunde der Gesellschaft gelegt, die zu wenig Empathie zulässt.
Ja, in der Tat: ein bitteres Spiegelbild.
Einen schönen Sonntag und liebe Grüße in den Tag hinein von
Ingrid