Eichwalde – Neukölln


1945, der Frieden ist ausgebrochen.
Keine Fliegeralarme mehr. Alles so anders. Eine unbekannte Ordnung ist eingetreten.

Das Braunhemd – das einzige Kleidungsstück, was es mal für halbe Punktzahl aus der Kleiderkarte gab – durfte ich eigentlich nicht mehr anziehen, ich hatte aber nichts anderes. Mutter setzte ich an die Nähmaschine und versuchte, mir aus Großvaters Nachlass – er war gleich zu Beginn des Krieges gestorben – ein passendes „Zivil“-Hemd zu schneidern. Großvaters Hemden hatten, wie es damals noch Mode war, keinen wie heute angenähten Kragen, und auch die Manschetten waren zum Anknöpfen. Irgendwie hatte Mutter das hingekriegt, war sie keine ausgebildete Schneiderin, ich hatte nun etwas anzuziehen.

Wir zogen mit dem Handwagen manchen Tag hinaus in die Mark, um Essbares zu erbetteln. Oft kamen wir gerade mit einem Ballen Stroh nach Hause, das für das letzte Kaninchen nützlich war.
Wir hungerten in Eichwalde, ein Ort mit „Selbstversorgern“ aus den Gartengrundstücken. Der Bäcker hatte Brot zu backen von dem, was die Russen zugestanden – um die vorgeschriebene Menge an Broten zu erreichen, war dem Bäcker befohlen, eben mehr Wasser in den Teig zu geben. Entsprechend hatte das Brot eine Kruste um einen Hohlraum mit Klietsch drin – da werde einmal satt davon, da bekomme mal die vielen Mäuler satt.
Das Wasser in der Suppe und der Klietsch zwangen, nachts mehrmals zur Toilette zu gehen – man musste aufpassen, dass man nicht träumte, dass man an einen Baum zum Urinieren ginge, in letzter Sekunde noch aufwachen konnte, das Bett zu bewahren.
Es gab kein Salz. Verheerend, Gewürzsalz, so noch vorhanden, zum Abschmecken zu nehmen. Wie schmecken gekochte Möhren ohne Kartoffeln, ohne Salz, ohne Brot? Und das vierzehn Tage lang?!

Mutter und ich zogen mit Ille, sieben Jahre alt im Handwagen sitzend, von Eichwalde zum Neuköllner Krankenhaus. Die Russen hatten sich in dem Krankenhaus etabliert. Ille sollte nun endlich die Wucherungen entfernt bekommen – wegen der Fliegeralarme und Bombenangriffe war dieser Eingriff zurückgestellt worden. Der Aufnahme-Arzt bat Mutter um vierzehn Tage Geduld, dann wären die Russen abgezogen und die Amerikaner würden dann einziehen. Dazwischen könnten sie operieren. So zogen wir unverrichteter Dinge wieder zurück, machten aber den Umweg in die Wassmannsdorfer Chaussee, wo ein Bruder unseres anderen Großvaters wohnte. Noch einmal zogen wir los nach Neukölln, lieferten Ille ab. Tage später besuchte ich alleine Ille im Krankenhaus, um nach dem Rechten zu schauen. Die Amis zogen gerade feldmarschmäßig in ihren Sektor ein, hatten die Luken der Panzer geschlossen – ich weiß nicht warum. Das nächste Mal, dass ich die Tour mit dem Handwagen alleine machte, konnte ich Ille zum Abholen besuchen. Da hat das Mädel von ihrem Brot und ihrer Wurst etwas für mich im Nachtkasten aufgehoben. Ich zog den Handwagen mit der Kleinen den langen Weg wieder nach Hause. Natürlich fuhren wir noch bei Onkel Erich vorbei – die wohnten ja jetzt im amerikanischen Sektor von Berlin und wir in der Sowjetisch besetzten Zone. Noch waren die Grenzen zwischen den Sektoren und Zonen nicht versperrt.
Unsere Mutter kam von einer Fahrt in den Harz mit der Postkarte zurück, woraus wir nun wussten, wo unser Vater im Westen gelandet war. Die Mutter nähte Rucksäcke, damit jeder etwas vom Reisegepäck tragen konnte. Wir wanderten aus in die Britische Zone.

1954 landete ich per Anhalter mit einer Neuköllner Mädel-Gruppe von Berchtesgaden kommend in Neukölln und besuchte Onkel Erich. Als ich da die Straße südwärts marschierte, befürchtete ich, dass das Grundstück etwa hinter der Zonengrenze lag, das Schild sagte mir dann beruhigend, dass es noch 800 Meter bis dahin wären.
Eichwalde habe ich 1986 besuchen können. Und nun habe ich es hierhin wie dahin gar nicht mehr so weit: ich bin ja wieder zu Hause in Berlin.
** Der Weg von Eichwalde zum Neuköllner Krankenhaus war damals etwas mehr als 20 km lang, heute durch Autobahnbau und Flughafen Schönefeld nicht mehr so zu begehen. Wir liefen die Strecke an einem Tag hin und wieder zurück.

ortwin

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Kommentare (6)

Filmgold Klar mag ich gerne andere Blogs lesen. Da mache ich mich gleich mal dran. Ich frage auch meine Großmutter aus wo es nur geht. Ich bin die älteste ihrer Enkelinnen und sehe das so als Aufgabe, ihre Erinnerungen zu übernehmen, damit die jüngeren und leider etwas desinteressierteren Enkel zumindest mich fragen können, wenn sie irgendwann Interesse bekommen und meine Großmutter nicht mehr lebt. Ich habe auch schon ein umfassendes Fotobuch mit Bildern von ihrer Familien und all den Vorvätern und -tanten zusammengestellt. Das ist auch immer ein tolles Geschenk für die ganze Familie und ein toller Anlass beim gemeinsamen Anschauen darüber zu reden.
Nun schicke ich herzliche Grüße aus dem sonnigen Neukölln

Lisa
ortwin Du möchtest vielleicht auch andere Blogs von mir lesen.
Nur Mut. Vielleicht ist heute das Schreiben in Tagebuch oder sonst wo durch den PC leichter als damals, als dazu eine Kladde angefaangen wurde und dann irgendwo mit soo vielen noch freien Blättern herum lag.
Fragt Eure Eltern, Großeltern, Verwandte nach ihren Erinnerungen ab, sammelt Dokumente und fangt an zu schreiben. Noch ist da jemand abzuhören - irgendwann können die Fragen nicht mehr beantwortet werden. Wie gerne würde ich Vater und Mutter und die Großeltern noch nach diesem und jenem fragen: das geht nicht mehr. Trotzdem, so Kleinigkeitenlassen sich doch noch mit Geduld finden.
Liebe Grüße nach Neukölln
Dieter


ortwin
Filmgold Ich bin zufällig über diesen Eintrag gestolpert, weil ich jetzt auch in Neukölln wohne. Mein Mitbewohner arbeitet in dem Krankenhaus. Es ist immer interessant und ich denke auch gut sich vor Augen zu führen, wie sich die Zeiten ändern und ändern können. Nun bin auch ich auf den Eintrag gespannt.
Viele Grüße
Lisa
Traute Stimmt und die Karten waren rosa oder anders farbig je nach Schwerarbeiter,oder....
Dann gab es Leberwurstersatz aus Hefe und Majoran und....
Ach die Fahrräder, es gab keine Schläuche und Mäntel, es gab Vollgummi, was immer das auch war.
Mein Vater(Tischler) baute Holzkoffer und Puppenwagen und Holzroller, für die Bauernkinder, gegen Lebensmittel. Das war mehr wert als Geld.
Kennst Du noch das Geld auf dem plötzlich Marken geklebt waren,die den Wert festlegten?. Manches ist doch nicht so hängen geblieben, ich war ja so um die 10 Jahre.
Bin schon auf die nächste Chronologie gespannt,
mit freundlichen Grüßen,
Traute
ortwin Nun, das Ritual kannten wir schon: die Karte vorlegen, man schnibbelte etwas ab, bekam dafür eben eine Ration, ein Zuteilung, wenn aufgerufen und noch zu haben.





Und was geschah mit den Schnibseln? Nach Ladenschluss wurden die angenommenen Marken bzw. Abschnitte auf Zeitungspapier aufgeklebt, denn sie mußten ja gezählt und weitergegeben werden.
Ach, meine erste große Tour mit dem selbst gebastelten Fahrrad, vier Wochen im Jahr 1949 durch Niedersachsen, Westfalen, Rheinland, Hessen, für einiges brauchte man noch Marken - nach der Währungsreform - ich vergesse nicht: der Schmelzkäse, markenfrei, da an der Weser, gekauft vom letzten Reisegeld - und so enttäuscht, dass Mutter nicht zu Hause war, sie war zu Vater nach Bonn gefahren - und ich so prallvoll der Erlebnisse.

ortwin
Traute Was waren das für Zeiten und durchkommen konnten nur die Wendigen und Pfiffigen die sich schnell entscheiden und anpassen konnten.Wie viele sind an Hungerkrankheiten gestorben.
Die Szene mit dem kranken Kind im Handwagen, erkenne ich auch in meiner Erinnerung. Meine Mutter wurde so nach Königsberg ins Krankenhaus gefahren, von Nachbarn, leider vergeblich.
Die Kleiderkarten(als ich im Nov.1947 nach Ostdeutschland vertrieben wurde) mit Punkten, lernte ich neben den Lebensmittelkarten auch noch kennen, dann gab es noch Bezugsscheine. Und Karten für Teilselbstversorger und Selbstversorger und Schwerarbeiter und Milchbezugsscheine für Kinder...Gut, das wir das alles nicht vergessen und ab und zu sollten wir davon hören,
Danke für Deinen Beitrag,
mit freundlichen Grüßen,
Traute

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