Morgens um halb Acht


Morgens um halb Acht


Sieben Uhr dreißig. Meine Gedanken schwirren wie kleine Mücken durch den Morgen. Dabei vergisst man schon die Alltäglichkeiten des Tages. Sie sind ganz einfach unwichtig. So wie der Tag an sich, ist heute Montag oder Donnerstag? Was bitte macht das schon aus? Jahre und Monate sind doch nur eine Aneinanderreihung von Tagen, erfunden nur, weil man sonst nicht wüsste, wie alt man ist. Sonst wüsste ja niemand, wann er Geburtstag hat! Solch eine Katastrophe, es gäbe keine Geburtstagsgäste und vor allem keine Geschenke. Nicht auszudenken, so etwas. Und erst der Handel - ganze Warengruppen würden einbrechen, die Blumenläden als Erste.
  Heute habe ich mich aufgerafft, in der Frühe eine kleine Wanderung zu unternehmen. Durch Feld und Flur, wie es im alten Volkslied heisst. Als ich aus dem Haus ging, war der Himmel noch bedeckt. Graue Wolken, blaue Lücken dazwischen. Inzwischen hat sich das Bild verändert. Vorsichtig schaut die Sonne hinter einer Wolkenwand hervor. Was mag sie wohl sehen, den kleinen Menschen hier auf dem Feldweg, der vergessen hat, welcher Wochentag heute ist? Gewiss nicht. Sie - die Sonne - hat andere Sorgen. Oder geniesst sie nur den Tag? 
       Ich wüsste gern, was die Sonne auf den bunten Kinderbildern mit dem Strahlenkranz denkt! Dort auf dem Feld die Sonnenblumen jedenfalls begrüßen mich mit strahlendem Lächeln. Sie scheinen ihr Ebenbild aus genau diesen Kinderbildern heraus kopiert zu haben. Oder ist es umgekehrt? Wie schön.
   Bald werden auch die Rosen nicht mehr da sein, verblüht und ohne jede Anziehungskraft für alle Insekten. Wer denkt denn im Herbst schon an den nächsten Frühling? Ist das nicht unnormal? Vielleicht. Jedenfalls weiss ich auch keine Antworten auf alle nebensächlichen Fragen des Lebens. Muss ich doch auch nicht, wozu gibt es denn Google? Ist doch viel bequemer. Und wenn dort jemand seine Weisheit an den Mann oder Frau bringt - wer kontrolliert eigentlich, ob das auch richtig ist? Eine These, aufgestellt und oft genug kolportiert, erscheint in der Folgezeit als unumstössliche Wahrheit. »Ich hab da gegoogelt, es ist alles richtig!« Alles nur irgendwie offiziell dargestellte wird ohne Beanstandung übernommen - weil alle es so richtig befinden!
  Der Weg führt mich weiter zwischen saftig-grünen Wiesen hindurch. Ein Grünfink knabbert an einer Hagebutte, sein Schnabel ist rundherum rot gefärbt von diesem süßen Frühstück. Er lebt, ohne nach dem Sinn seines Lebens zu fragen? Warum leben wir nicht so unbeschwert? Oder dort an der Distel die kleine schwarzbraune Raupe mit den tausend Härchen. Sie erklimmt mit all ihren Füßchen unbeirrt den hundertmal so hohen Stängel, ohne danach zu fragen, ob sie überhaupt oben ankommt. Und irgendwann - in einigen Tagen - wird aus der Raupe ein wunderschöner Schmetterling. Fragt er danach, ob er früher so unansehnlich war? 
     Ja, ich weiss das doch auch, blöd bin ich nicht, diese Fragen sind selbstverständlich irreal, weil die Insekten ja nicht denken können. Moment - wissen wir das nun wirklich oder verlassen wir uns da auch auf Google? Hmm - ich weiss, das sind lächerliche Fragen, aber warum dürfen wir das nicht ausdrücken? Nur weil wir keine Kinder mehr sind, dürfen wir doch einfach ins Blaue hinein solche Fragen stellen. Oder siehst du da irgend einen Verbotsparagrafen? 
  Vielleicht wird man ja gleich weggesperrt, weil man nicht in das Schema passt, dass manch anderer sich von einem alten Menschen macht. Wäre wahrscheinlich gar nicht so selten. Fragen, die außerhalb der allgemeinen Denkweise angesiedelt sind, könnten an der Substanz der Realität zehren. Das jedoch rüttelt dann an der festen Übereinstimmung mit den Schulwissenschaften. Welch eine Katastrophe!
      Wenn sich immer alle an die allgemeinen Denkweisen gehalten hätten, würden wir heute noch glauben, dass die Erde eine Scheibe ist! Jeder Teilnehmer einer Kreuzfahrt müsste vorher eine Erklärung unterschreiben, dass er alle Risiken eines Absturzes in vollem Umfang auf sich nimmt. Das wären dann tolle Aussichten, alle Reedereien wären alsbald insolvent! Und die Meyerwerft in Papenburg könnte Papierschiffchen falten ...
        Haben wir etwas anstelle der Natur einzusetzen? Gewiss, wir benutzen Technik, Elektronik, Erfahrung, Geist und Wissen. Dabei vergessen wir oft, dass so manche Bauart beispielsweise aus der Natur übernommen wurde, nur eben in größerer Form. Und die hat sich allemal bewährt. Wie oft wird diese Natur vergewaltigt, bis zur Unkenntlichkeit verändert. Und irgendwann, bei einer Katastrophe, schlägt sie zurück. Dann wundert sich der Mensch, warum dies geschieht!
  Ja, nun hat mich mein Weg zurückgeführt, nach Hause, zu meinem Domizil. Dorthin, wo Ameisen und Mücken mir wieder beweisen, dass nichts vollkommen ist. Auch sie haben ihre Daseinsberechtigung. Genauso, wie die Schnecken, die meinen Salat als Leibspeise auserkoren haben!
  Jedenfalls war es ein ereignisreicher Morgen, auch wenn er vielleicht sinnlos war. Für mich nicht. Ich liebe die Natur, mit allen Einschränkungen, die sie mir auferlegt. Ich muss nicht alles tun, was mir richtig erscheint; schließlich habe ich meinen Kopf nicht nur für den Friseur ...


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Kommentare (5)

Rosi65


Weil die Insekten ja nicht denken können...“

Lieber Horst, Deine Fragen sind aber gute Ansätze, um nach Wissen zu streben.

Habe mal eine Wespe beobachtet, die den Ausgang aus dem geschlossenen Raum suchte. Dabei flog sie zum Fenster in die Richtung zum Licht. Doch das Fensterglas versperrte ihr den Weg.
Das Tier wurde richtig laut und wütend, weil es nicht klappte. So nahm die Wespe immer wieder Anlauf und wäre wohl an einem Kamikaze verendet, wenn ich sie nicht mit Hilfe eines Glases in die Freiheit befördert hätte (Zugegeben, nicht ohne Angst).
Deshalb nehme ich mal an, dass Insekten vielleicht eine eingeschränkte Denkfähigkeit besitzen.

Rosi65

 

Aurora borealis

Gedanken..

Außergewöhnliche Gedanken und rhetorische Fragen.
Tiefgründlich präsentiert.
InteressanterText.

Adoma

Mit Vergnügen, lieber Pan, wäre ich bei Deinem Spaziergang
hinter Dir her gelaufen,
um Gedankenschnipsel von Dir aufzusammeln oder einzufangen.
Und natürlich, um sie weiter zu spinnen...

Adoma







 

Pan

Liebe Adoma,  
Danke! sehr - sagt der "Schnippselverteiler"
mit gefühlten Freudensprüngen!
(Na ja, sagen wir mal lieber (Hüpfern"!)
Horst

rilke_5.jpg
 

Adoma

@Pan  


Lieber Pan

Jetzt wirst Du doch nicht meine Schnipsel aufgelesen haben?
Oder wie kommst Du jetzt gerade auf Rilkes Zeilen?

Und wie werde ich sie jetzt wieder los?
Diese Zeilen - eingebettet in ein wunderschönes Musikprojekt.

Hatte ich doch schon einige Male Zeiten, in denen "Rilkes Projekt"
den ganzen Tag rauf und runter gespielt wurde....

Auf eine schöne, besinnlich-bekannte Zeit:
 


Adoma


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