Pik Bube
Am Flugplatz
Zemun
- KOMANDA LOGORA AERODROM ZEMUN -
Das war die neue
Firma. Alle meine Erfahrungen und Vorstellungen von Gefangenenunterkünften
konnte ich getrost vergessen. Das
Prinzip der Legebatterien auf einem Hühner- oder treffender Eierhof
muss sich, in verkleinertem Maßstab, ein ehemaliger Kriegsgefangener aus
Russland oder Jugoslawien ausgedacht haben. Die ursprünglichen Abmessungen
waren nämlich drei, in etwa fünfundzwanzig Zentimeter über dem Boden
beginnende, in einem Höhenabstand von einem Meter durchgehende
Holzpritschen. Alle fünf Meter machte eine senkrecht aufsteigende Leiter
die beiden oberen Etagen zugänglich. Bei Normalbelegung hatte jeder
einen laufenden Meter Pritschenfläche zu seiner uneingeschränkten
Verfügung. Vorübergehende Über- und Unterbelegungen waren natürlich
unvermeidlich. Das alles ließ sich auch leicht rechnen. Auf zehn Quadratmeter
kalkulierte man dreißig Personen. Dabei waren die zu veranschlagenden
Durchgänge berücksichtigt. Für die Unterbringung von tausend Menschen
brauchte man also, großzügig gerechnet, dreihundertfünfzig Quadratmeter.-
Eine Modellrechnung für Fußballfreunde: Nach diesem Belegungsschlüssel
wären auf einem Fußballspielfeld zweiundzwanzigtausend Menschen
unterzubringen. Wohlverstanden; nicht auf den Rängen, sondern auf dem
Spielfeld. Wer sich vorstellt, dass es in diesen Quartieren laut zugegangen sei,
der irrt. Der Geräuschspegel war erstaunlich niedrig und wurde durch die Größe
des Raumes bestimmt. Die hierbei zugrundeliegende Gesetzmäßigkeit
machte man sich später bei der Konzeption von Großraumbüros zunutze. Bei Südländern,
ich denke da an unsere italienischen Kameraden, gelten andere Gesetze. Beim Mief geht die Raumgröße nicht mit in die Rechnung ein. Da zählt
allein die Kubikmeter Belegung. Die landläufige Meinung, dass Mief
grundsätzlich unangenehm sei, trifft auch nur mit Einschränkungen zu. In
der Zeit, von der hier die Rede ist, herrschten zeitweise Außentemperaturen
um minus dreißig Grad. Die einzigen, in Watt messbaren Energiequellen in
der hier zu beschreibenden Unterkunft waren zwölf Glühbirnen mit etwa je
hundert Watt. Wenn der Mief das einzige ist, was noch wärmt, schafft er
Atmosphäre und wohlige Geborgenheit. Der einzige Tageslichteinfall kam mit der Frischluft durch zwei kleine,
sich gegenüberliegende Giebelfenster. Der Anblick dieses Gefangenensilos verschlug mir erst einmal die Sprache.
Weil ich, in Staunen versunken, den Durchgang versperrte, erhielt ich von
irgendwoher einen kräftigen Tritt in den Hintern. Auch nannte man mich so.
Sinngemäß jedenfalls. Mit der Information, dass genügend freie Schlafplätze vorhanden seien,
machten wir uns auf die Suche. Man muss sich das vorstellen: Zwei etwa
dreißig Meter lange Gänge, die zu jeweils vierhundertfünfzig Pritschenplätzen
führten. Wir Neuankömmlinge waren ungefähr dreißig Mann. Nicht jeder
Liegeplatz, der frei schien, war deshalb auch unbelegt. Da waren welche
unterwegs zu Freunden und Bekannten oder zur Latrine. Man musste darauf
achten, ob an freischeinenden Plätzen Gepäck abgelegt war. War
das nicht der Fall, hieß es beherzt zugreifen und nicht erst lange fragen. So
machten wir eine Weile die Leitern hinauf und herunter. Als wir alle einen
Platz gefunden hatten, wurde es auch schon Zeit für die abendliche
Essensausgabe. Unmittelbar danach wurden die Brotportionen ausgegeben; vierhundert
Gramm für jeden Mann. Dabei konnten wir ein interessantes Verteilungszeremoniell
beobachten und sogleich nachvollziehen. Der erste schnitt den runden
Brotlaib in drei möglichst gleiche Teile, während der zweite diesem Vorgang
bereits den Rücken zuwandte. Der dritte nahm das erste, dann das zweite und
dritte Brotstück in die Hand und fragte den 'Blinden', wer das jeweilige
Stück bekommen sollte. Das war, weiß Gott, reell! Die Sende- und Pausenzeichen von Radio Belgrad waren und sind heute noch
die ersten vier Töne der Straußchen Walzermelodie Do-nau-so-blau. Hier interpretierte man diese Tonfolge mit
Drei-Mann-ein-Brot. Wer vernünftig war, teilte sich seine Brotportion ein; für den Abend,
den nächsten Morgen und den kommenden Mittag. Diese Vernünftigen hat es
wohl nicht gegeben. Die Beherrschten aßen am Abend die Hälfte und den Rest am
frühen Morgen. Dieser Rest war dann selten noch die Hälfte. Die erste Graupensuppe schmeckte hier wie überall. Meine Brotportion
steckte noch unangefochten in meiner Hirtentasche, als ich mich auf den
Weg in den Waschraum machte, um mein Geschirr auszuwaschen. Man nahm sich dann
noch etwas frisches Wasser mit an den Schlafplatz. Auf meinem Rückweg, ich
hatte übrigens die Belletage bezogen, schaute ich mir aufmerksam die
Gesichter der Leute an. Unten im 'Erdgeschoss' schienen sich die Handwerker und Tüftler angesiedelt
zu haben. Auf den ersten Blick feilte man allenthalben an kleinen Rohrstückchen
herum. Als ich einen dieser Künstler befragte, was das werden solle, nahm
dieser sein Gesicht hoch. - Es war Helmut Tietze. - Mein Gott, ich war nicht
mehr 'allein'! Sollte damit meine 'Elsass-Tournee' einen Sinn bekommen haben? Jedenfalls
hörte ich auf, mich in meiner selbstverschuldeten Idylle weiter zu bedauern.
Ich hatte meinen Seelenfrieden wieder. Wie feiert man ein solches Wiedersehen, wenn weit und breit kein Alkohol?
Man verschiebt dieses höchstfällige Besäufnis auf später. Es hat nie stattgefunden. Nicht aus Gründen lobenswerter Einsichten. Als
sehr viel später wieder einmal Alkohol am Wege stand, war ich mit Helmut nicht
mehr zusammen. Dass der nächste Tag ein Sonntag war, ergab sich so. Als wir montags zur
Arbeit gingen, war ich über meine künftige Tätigkeit bestens informiert. Wir
mussten die Eisenarmierung aus dem Beton der gesprengten Flugzeughangar
heraushämmern. Aus bestem Bunkerbeton! Eine Sauarbeit. Eigentlich hatten
wir beide es nicht besser verdient. Als vor gut einem Jahr diese Betonbrocken
durch die Gegend flogen, waren wir dabei und daran beteiligt. Helmut und ich
hatten dies aber nicht angeordnet; auf Ehre und Gewissen. Jetzt kam aber erst einmal der Sonntag; ein ganzer, langer Tag zum
Erzählen. So, wie Oberst Klotz sich den Rückzug seiner Kompanien vorgestellt
hatte, war es doch nicht gelaufen. Ohne jetzt auf Einzelheiten einzugehen,
mussten die Kompanien in den Frontstellungen noch recht erhebliche
Verluste einstecken. Es haben sich dabei entsetzliche Dinge zugetragen. Es
war dies ja noch die Zeit jener unbeschreiblichen Scheußlichkeiten.
Während ich es nur bis Vinkovci schaffte, war er bis Slawonisch Brod
gekommen, in der Hoffnung, dort noch auf zurückflutende Truppenverbände zu
stoßen. Es erging ihm wie mir. Aus seiner Hoffnung wurde auch nichts. Man nahm
ihm alles ab, bis auf das Leben und schaffte ihn gleich zu Anfang hier nach
Zemun. So gehörte er zum alteingesessenen Personal, mit allen
Erkenntnissen und Verbindungen. Schon saß ich wieder mittendrin. Helmut schleppte mich zu seinem Zugführer und bat, dafür zu sorgen, dass
ich seiner Arbeitsgruppe zugeteilt werde. Ich wurde. Ach ja, fast hätte ich's vergessen. Was Helmut und seine Bastlerzunft in
ihrer kargen Freizeit mit einer Feile bearbeiteten, waren tatsächlich auf
kleine Stücke gesägte Rohrteile, aus denen Siegelringe angefertigt wurden.
Im verkaufsfertigen Zustand waren sie recht kunstvoll gearbeitet und
auf Hochglanz poliert. Verzinkte Rohre ergaben 'Silber'; 'Gold' schöpfte man
aus Messing. Die Wachmannschaft war ganz wild auf diesen Schmuck.
Gezahlt wurde mit Zigaretten der Marke PARTISAN. Für Zigaretten, und der Kunst zuliebe, tat sich hier so allerhand. Da
gab es ein Gespann, welches die Technik des Gießens beherrschte. Die Lagerleitung
hatte ihnen einen kleinen Raum mit dem Notwendigsten ausgestattet. Ein runder,
gusseiserner Kanonenofen diente der Metallschmelze. An die Verschlusskappe
einer Sauerstofflasche war senkrecht ein stabiler Eisenstab geschweißt, an dem
man die umfunktionierte Flaschenkappe in die Ofenglut absenkte. Alles
Gießmaterial war Flugzeugschrott aus dem Bereich der Leichtmetalle. Im
Fertigungsprogramm befanden sich Aschenbecher mit Stern oder mit Hammer
und Sichel. Glanzstück und Verkaufsschlager waren Tito-Plaketten. Was die
Aschenbecher betraf, so verlangte man für Hammer und Sichel etwas mehr.
Angeblich führte die aufwendigere Formgestaltung zu einer höheren Ausschussquote.
Das Tito-Profil war aus einer Grundplatte von etwa 12x15 Zentimetern herausgearbeitet.
Die Gießform hatte man nach der Plastik eines jugoslawischen Künstlers
plagiiert. Aber wer fragte damals nach so etwas. Der Lagerkommandant
verfügte über den gesamten Produktionsausstoß. Die Nachfrage war,
besonders bei den Tito-Plaketten, ganz enorm. Unsere Gießerei bekam alles was sie brauchte. Quarzsand und Graphitpulver
besorgte der Kommandant. Weiß der Teufel woher. Leichtmetalles Rohmaterial
trugen wir zusammen. Grundsätzlich bekamen wir für unsere Anlieferungen
nichts. Aber was heißt schon nichts. Es konnte durchaus passieren, dass jemand
eine halbe Zigarette zu Ende rauchen durfte. Den schmachtenden Blick musste man
beherrschen. Irgendwann ist es dann passiert, dass diese Gießerei vorübergehend
schließen musste. Auf unserer Rohmaterialsuche waren wir auf wertvoll
erscheinende Profilteile gestoßen, die ganz besonders leicht und
einen etwas bläulichen Oberflächenschimmer aufwiesen. Das beigeschaffte
Material hätte satt für mehrere Schmelzvorgänge gereicht. Es hat aber nur
einer stattgefunden. Warum? - Ich war zufällig dabei, als unser Obergießer die
randgefüllte Eisenkappe in die Glut absenkte. Es dauerte nicht lange, da wurde der Kanonenofen in Höhe des Glutrostes
ganz plötzlich weißrot glühend. Er knickte in der Hüfte ein und neigte
sich sanft zur Seite. Ein beherzter Griff zum stets gefüllten Wassereimer,
Fauchen, Zischen, weißer Dampf, - den Kanonenofen durfte man vergessen.
Vom betriebswirtschaftlichen Standpunkt hatte er sich auch längst amortisiert.
Von einem, der zwar nichts vom Gießen, dafür aber umso mehr von Metallegierungen
verstand, ließen sich unsere Künstler überzeugen, dass mit diesem bläulich
schimmernden Elektron kein Geschäft zu machen sei. Die Lagerverwaltung
besorgte bald einen neuen Ofen, und wir ließen fortan die Finger von allem, was
verdächtig glänzte. Der Kommandant schien irgendwie zufrieden, dass den
Deutschen ab und zu auch mal etwas in die Hose ging. Die Sucht zum Rauchen hat aber nicht nur die Kunst gefördert. Sie hat
Freundschaften zerstört, zum Mundraub verleitet und risikobewusst den Tod
herausgefordert. Von all' dem werden wir noch hören. Wegen des Rauchens taten sich auch zwischen Helmut und mir unversehens
Probleme auf. Am ersten Sonntag unseres Wiedersehens, als es so vieles zu erzählen
gab, hatte Helmut eine frische Packung PARTISAN angebrochen, und ich bediente
mich ungeniert, als er mich zum Mitrauchen einlud. Ich habe keinen
Augenblick darüber nachgedacht, wie mühsam er sich diese Zigaretten erworben
hatte. Zu groß war die Freude unseres Zusammentreffens und überhaupt. Bei
uns gab es früher schon immer nur zwei Zustände. Entweder hatten wir was, oder
wir hatten eben nichts. Da gabŐs kein Dir und Mir. Soweit war auch noch alles
beim alten. Nachdem wir aber seinen Vorrat an 'Aktiven' weggeraucht hatten,
bot er mir Tage später gesammelte Kippen zum Selberdrehen an, nicht ohne auch
das dazu erforderliche Zeitungspapier bereitzuhalten. Da konnte ich nicht mehr
mithalten. Ich war bestürzt, als ich sah, wie sehr ich Helmut mit dieser Ablehnung
vor den Kopf gestoßen hatte. Aber was sollte ich machen? Es gab nun einmal
Dinge, die konnte ich mit dem besten Willen nicht nachvollziehen. Dazu
gehörte auch das Kippenrauchen. Um mir seine Freundschaft zu erhalten, wäre ich jedes kalkulierbare Risiko
eingegangen. Warum zierte ich mich jetzt so? Es war nicht, jedenfalls
nicht ausschlaggebend, das Unappetitliche an dieser Art von Suchtbefriedigung.
Ich konnte es nicht, und ich will versuchen das zu erklären. Von Kindesbeinen an musste ich mein Selbstbewusstsein etwas mühsam
zusammentragen; einfach deshalb, weil ich mir oft selbst im Wege stand.
Vielleicht hat es mir an gesundem Ehrgeiz gefehlt. In jungen Jahren zeigten sich bei mir deutliche Veranlagungen im Malen
oder Zeichnen und in der Musik. Ich karikierte den Lehrkörper, ohne dafür die
rechte Anerkennung zu finden. Im Schulchor dieser 'höheren Lehranstalt' sang
ich die Sopran- und Altsoli, wie es gerade gefragt war. So ließ mein Musikprofessor
bei meiner Einstellung zur Musiklehre Milde walten. Ich will sagen, aus
allem wurde nichts Rechtes. Solche Konflikte hatten natürlich Auswirkungen im
Elternhaus. Meine Mutter, die mich mit loser Hand regierte, betete zum lieben
Gott, dass ich dann doch wenigstens ein anständiger Mensch bleiben möge. Da ich
meine Mutter sehr liebte, trafen mich ihre Zweifel tief. Mein Vater war die Ruhe in Person; zumindest nach außen hin. Seine Erziehungsleitbilder
waren Wahrhaftigkeit und Vertrauenswürdigkeit. In dieser Hinsicht ließ er
auch Kleinigkeiten nicht durchgehen. Dieses unbeschädigte Vertrauen,
das mein Vater mir entgegenbringen konnte, das war mein Selbstvertrauen
und mein Leben. Ich hätte mich selbst nicht mehr gemocht, wenn ich meinem Vater
eine Unwahrheit zugemutet hätte. Selbstverständlich hat man in seiner
gelegentlichen Not nach einem 'dritten Weg' Ausschau gehalten. Aber das brachte
nichts ein. Mein Vater nannte das den Versuch, ihm ein 'Hörnchen zu drehen'.
Ich habe über diesen Ausdruck nie weiter nachgedacht. Er wird ihn wohl auch von
seinem Vater haben. Diese starke Bindung zu meinen Eltern war mir in den Jahren der Trennung
und der Not sehr hilfreich. Alle Versuchungen, die Hunger und Entbehrungen
so mit sich brachten, prüfte ich in meinen Vorstellungen am Verhalten meines
Vaters ab. Was in dieser Vorstellung bei ihm nicht gut aussah, war für mich
gestorben. So fand ich es unmöglich, dass mein Vater sich nach einer Zigarettenkippe
gebückt hätte. Damit war dies auch für mich nicht mehr möglich. Da wurde das
Kreuz steif, die Arme wurden lahm, und die Finger taten's auch nicht. Bei Helmut Tietze kam aber noch etwas hinzu. Wenn ich damals dem Fritz
Barufke empfahl, dass er sich seine Kippenauslese sonst wo hinstecken
solle, grinste der und packte seinen Laden zusammen. Helmut sah sich in
vergleichbarer Situation von mir disqualifiziert und reagierte ganz
empfindlich. Wegen dieser Empfindlichkeit sind wir uns einmal eine ganze Zeit
aus dem Wege gegangen. Da es noch vieles zu erzählen und berichten gab, gelang es uns diesmal,
die so plötzlich aufgetretene Missstimmung hinter uns zu bringen. * Am ersten Arbeitstag bei Eis und Schnee, zwischen den zersprengten Flugzeughallen,
lernte ich Helmuts Kumpel kennen. Heinz Feller kam aus dem Trierer Land.
Er war groß und kräftig, aber dem knorrigen Helmut wohl doch nicht gewachsen.
Von so viel Kraft umgeben, mochte ich der nahen Zukunft hoffnungsvoll ins
trübe Auge schauen. Wie schon angedeutet, war hier schwere körperliche Arbeit zu leisten.
Dort, wo gehämmert wurde, arbeiteten jeweils zwei Mann zusammen. Der eine
führte den großen Meißel, der in einem Rundeisen gehalten wurde. Der andere
schwang den schweren Vorschlaghammer. Hunderte dieser Betonspechte
legten die begehrten Eisenarmierungen frei. Die Rundstähle dieser Armierung hatten einen Durchmesser zwischen
dreißig und vierzig Millimeter und waren, so aus der Erinnerung geschätzt,
bestimmt zehn und mehr Meter lang und an beiden Enden umgebogen. Vorne wie hinten
trugen jeweils fünf bis sechs Mann. Das lange Mittelstück hing oft tief zur
Erde durch und wippte schwergewichtig mit uns im Schritt. Die Reihenfolge
der Träger ergab sich aus unserer Körpergröße. Die beiden Längsten gingen
jeweils ganz vorne und ganz hinten. In der vereinbarten Reihenfolge verhinderte
meine Körpergröße von ganz normalen 1,74 Meter die Effizienz meines ehrlich
eingebrachten Leistungswillens. Die Holzsohlen meiner Gesundheitsschuhe
ließen es auch nicht zu, auf die Zehenspitzen zu gehen. Also musste ich
schamlos den mir zukommenden Gewichtsanteil delegieren. Helmut hatte aber keine
Mühe, die anderen davon zu überzeugen, dass ansonsten alle Maße bei mir
stimmten. Mit dieser Schlepperei war aber noch ein völlig überflüssiges Ärgernis
verbunden. Wenn wir mit unseren Holzsohlen über die eisglatten Betonpisten
balancierten, machte es einigen Wachmännern unsagbares Vergnügen,
sich an die hintere Trägergruppe heranzuschleichen. Ein kräftiger Tritt mit
quergestelltem Fuß gegen die Hacken unseres Schlussmanns löste einen
ungemein belustigenden Dominoeffekt aus. In dieser Reihenfolge schlugen
wir mit unseren Schädeln aufs Eis. Das schwere Eisen tat sein übriges. Wenn wir
auf dem Boden aufschlugen, federte das lange Rundeisen am vorderen Ende hoch
und holte diese Trägergruppe auch von den Beinen. Aus der Sicht der Wachmannschaft mag das noch so lustig ausgesehen
haben, aber deshalb mussten sie das ja nicht ständig wiederholen. Uns brachte
das Hautabschürfungen, blaue Flecken und gelegentlich auch Platzwunden am
Schädel ein. Mit dem Transportieren und dem Hämmern wechselten wir uns täglich ab.
Beim Schwingen des Hammers hatte ich auch keine Probleme mit meiner Körpergröße.
Man konnte natürlich nicht pausenlos hämmern. Wehe aber, wenn ein Wachposten
spitz bekam, dass man gerade seinen schlappen Tag hatte. Im Weitwinkel
musste man ihn rechtzeitig auftauchen sehen, um dann wie wild loszuhämmern.
Dann war alles gut. Da man mir aber bei meiner Gefangennahme die Brille
zertreten hatte, war ich auf rechtzeitigen Zuruf angewiesen. Heinz und Helmut
haben stets ein wachsames Auge auf mich gehalten, aber immer hat das nicht
geklappt. Meine Kurzsichtigkeit hat mir etliche Prügel eingebracht. Im Zusammenhang mit dieser Schinderei und Prügelei fällt mir eine Episode
ein, die mich damals sehr beeindruckt hat. Ich ging unseren italienischen Mitgefangenen gerne etwas aus dem Wege.
Sie waren mir einfach zu laut, zu hektisch, sie machten mich ganz nervös.
Dann erlebte ich folgendes: Ein Wachmann hatte sich neben einem schmächtigen
Italiener aufgebaut und trieb diesen mit Kolbenschlägen pausenlos zur
Arbeit an. Der arme Kerl lag am Ende eher halb bewusstlos am Boden, als noch
auf den Beinen zu stehen. Mit einem Mal kommt ein großer, breitschultriger und
außerdem sehr gut aussehender Italiener dazu, nimmt dem halb ohnmächtigen
den schweren Hammer ab und übernimmt seinen Part. Der Wachmann wurde wütend und
forderte den Mann von der Ersatzbank auf, diesem 'Drückeberger' den Hammer
zurückzugeben. Unser Italiener schenkte diesem Schinder keinerlei
Beachtung. Die Situation war mit einem Mal äußerst kritisch geworden. Wir, die
wir nicht weit weg standen, pfiffen unsere Kumpels zusammen und schafften
mit einem Halbkreis eine gewisse Öffentlichkeit. Wir buhten den Wachmann
aus. Vor so viel Publikum gefiel ihm seine wütende Drescherei auch nicht mehr
so recht. Er fluchte kräftig, jagte uns allesamt an die Arbeit und machte sich
davon. Von diesem Tag an erschienen mir die Italiener nicht mehr ganz
so laut, und sie machten mich auch nicht mehr nervös. Die serbischen Wachleute waren aber nachtragend wie die Elefanten. Die beiden Italiener hatten fortan keine Ruhe mehr vor diesem Wüterich.
Später hieß es, dass der so imponierend hilfsbereite Kamerad mit Netzhautablösung
ins Krankenrevier gekommen sei. In seiner Heimat wäre ihm zu helfen gewesen.
Hier führte solch eine Komplikation unausweichlich zur Erblindung. - Man
durfte nicht ernsthaft krank werden. Kurze Zeit später wurden wir alle gegen Fleckfieber geimpft. Es hieß,
dass ein Impfstoff aus eigener Forschung und Herstellung erprobt werde.
Aber wer wollte wissen, ob das stimmte? Mir war das auch egal. Nach meinen
Erfahrungen schien mir diese Aktion sehr nützlich. Ob es nun am Impfstoff
oder an mangelhaften hygienischen Vorkehrungen lag, sehr viele bekamen im
Impfbereich der oberen Rippen markante bis sehr böse Entzündungen, die zum
Teil chirurgische Maßnahmen notwendig machten. Bei meinen Freunden und bei
mir tat sich nichts. Zwei andere Ärgernisse sind mir noch in schlechter Erinnerung. Der Weg zur Küche war fast so weit wie der Weg zur Latrine. Bei der
Essenausgabe am Abend blieben viele von uns im eisigen Wind an der
Küchenbaracke stehen, löffelten dort hastig ihre Suppe aus und stellten
sich sogleich für einen Nachschlag an. Den gab es natürlich erst, wenn alles
abgespeist war. Während Wind und Schnee über das flache Flugplatzgelände
fegten, standen diese armen Fresser, mit heruntergezogener Mütze und
hochgestelltem Rockkragen, dicht an die Barackenwand gedrängt. Das
verdammte Küchenpersonal ließ sie dann stehen und stehen. Aber das schien
unseren Hungermäulern absolut nichts auszumachen. Oft erst eine ganze
Stunde später wurde der Ausgabeschalter wieder geöffnet. Die Suppenreste
wurden mildtätig verteilt. Diesen Nachschlag aß man dann langsam und bedächtig
in der Unterkunft auf der Pritsche. Selbstverständlich war die Menge der Nahrungsaufnahme auch eine Frage
von Disziplin und Mäßigung; genauso wie in satten Zeiten. Je länger unsere
Gefangenschaft aber dauerte, umso unvorstellbarer schien es uns, dass man
einmal mit Essen aufhören könne, wenn noch Essbares vorhanden sei. Wenn man
also dem Hunger doch ständig ausgeliefert war, stand man sich besser, wenn
man den Magen schrumpfen ließ, als ihn mit eintönigem Suppenfraß auch noch
leichtfertig auszudehnen. Allerdings, den Hunger zu zügeln war nicht einfacher
als das Rauchen zu lassen. Auch in dieser Bedrängnis wusste ich meinen Vater hilfreich in meiner
Nähe. Wie sich schon bald herausstellte, erwies sich diese Fresssucht als
außerordentlich lebensbedrohend. Man wird sagen dürfen, dass die
wenigsten von ihnen die Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft
erlebt haben. Entweder sind sie an der Ruhr gestorben, indem sie sich buchstäblich
totgeschissen haben, oder an der heimtückischen und schmerzlosen Dystrophie
oder an beidem zugrunde gegangen. Dystrophie, was war das? Ich glaube zu Anfang wussten das unsere Ärzte
auch noch nicht so ganz genau. Die Erkrankten hatten jedenfalls immer Durst.
Ganz besonders kritisch erwies sich das bei denen, die schon durch eine Ruhr
eine Menge Körperflüssigkeit verloren hatten. Diese soffen mitunter hemmungslos
alles, was sich ihnen darbot. Irgendwann waren ihnen dann beim morgendlichen
Erwachen die Gesichter dick geschwollen, und unter ihren Augen hatten sich
dicke Wassersäcke gebildet. Diese Aufschwemmungen hatten bei einigen der
Erkrankten monströse Formen angenommen. Diejenigen, die nicht mehr in
ihre Kleider passten, lagen mehr oder minder unbekleidet auf ihren
Pritschen und dösten stumpfsinnig vor sich hin. Wenn sie auf der Seite lagen,
breitete sich ihre Bauchpartie wie ein Wassersack auf der Pritsche aus. Irgendwie wirkten diese Kerle trotz alledem ruhig und gelassen. Im eigenen
Saft still und schmerzlos ersaufen, wann hatte es das schon einmal gegeben? Von
dem Zustand des Hinüberschlummerns hatte ich ja im Krankenrevier von Vinkovci
einen Vorgeschmack bekommen, als ich, vermeintlich glücklich und zufrieden,
meine Hochzeit plante und organisierte. Fleckfieber, das war schon
die Hölle beim Zuschauen. Dystrophie, mein Gott, das war fast schon scheißegal. Das andere, absolut unvergleichbare Ärgernis, grenzte schon fast an
Schwachsinn und sollte dazu noch lustig sein. Ich erwähnte schon, welch großer Energie es bedurfte, am Abend seine
Brotportion auf den nächsten Tag hinüberzuretten. Nur der Schlafende
sündigte auch hier nicht - wenn man ihn schlafen ließ. Wenn es schon nichts zu lachen gab, musste man eben selbst für Spaß und
Unterhaltung sorgen. Bis zur Latrine waren es etwa fünfzig Meter. Wenn also mitten in der
Nacht Blase, Darm oder beides drückten, musste man sich bei Schnee und Wind
dorthin auf den Weg machen, was wirklich kein Vergnügen war. Um diese Notdurft
etwas aufzuhellen, waren einige Witzbolde auf die Idee verfallen, sich nach
Gesellschaft umzuschauen, und diese Unart fand reiche Nachahmung. Und so wurde
es gemacht: - Wenn man für den Gang zur Latrine Gesellschaft suchte, zog oder
drehte man dem ersten besten (Schwächeren) am großen Zeh, bis dieser aufwachte.
Bei der Aufforderung mit zum Pinkeln zu gehen, bekam man tatsächlich momentan
Druck auf die Blase. Man fluchte zwar, aber man ging mit. Hatte man aber einmal
den langen eisigen Weg zur Latrine hinter sich, dann trabte man oft die
ganze Nacht, weil sich die verkühlte Blase immer wieder meldete. Diese Pinkelrunden
dann durchzustehen, ohne sich am Brotvorrat zu vergreifen, das sollte
schon was heißen. Tagsüber schikanierte uns die Wachmannschaft. In der Nacht
schikanierten wir uns untereinander, weil's ja solchen Spaß machte. In der zweiten Februarhälfte kam Helmut mit guten Nachrichten. Für die
angrenzende Fliegerkaserne sollte ein kleines Arbeitskommando zusammengestellt
werden. Dieses Kommando wurde unter der Bezeichnung 'Kaserne/Kanal'
geführt. Helmut hatte, dank seiner guten Beziehungen, ohne lange zu
überlegen, zugegriffen. Die passende Mannschaft konnte er selbst zusammenstellen.
So holte Helmut auch mich aus diesem schrecklichen Stall heraus. Wir waren nur sechs Mann. Alle hatten sie ein solides Handwerk studiert.
Der einzige Ungelernte war ich. Wir machten alles. War ein Klo, waren
Waschbecken verstopft, brannte irgendwo kein Licht, 'Kaserne/Kanal'
brachte alles wieder in Ordnung. Wir haben sogar komplette Heizungsanlagen
installiert. Unsere Unterkunft war allerdings sehr bescheiden. In einem Raum, so groß
wie eine Autogarage, mit einer Fensterwand in Fabrikverglasung, lagen wir
auf dem blanken Zementboden. Aber was heißt schon blank. Ich hatte doch meine
Zementtüten. Die anderen hatten sehr bald auch alle ihre 'Portland-Matratzen'.
Das Essen bekamen wir aus dem großen Lager. Es wurde uns auf einer klapprigen
Karre angeliefert. Was die Unterkunft vermissen ließ, wurde reichlich ausgeglichen, indem
es keine Wachmannschaft mehr gab, die uns zur Arbeit antrieb. Wir waren
Spezialisten, konnten alles das, was die anderen offensichtlich nicht
konnten. Entsprechend respektierlich wurden wir behandelt. Helmut und mir machte es großes Vergnügen, wenn wir uns in der Nähe des
Rollfeldes aufhalten konnten; besonders wenn bulgarische Maschinen einflogen.
Dann packten wir uns irgend etwas auf die Schulter, was nach Arbeit aussah,
und versuchten, mit dem bulgarischen Flugpersonal Kontakt aufzunehmen.
Ihre Uniformen waren uns noch sehr vertraut, wenn auch einige entscheidende
Veränderungen festzustellen waren, was die neuen Hoheitszeichen betraf. Das bulgarische Flugpersonal zeigte sich froh und freundlich überrascht,
als wir sie in ihrer Landessprache anredeten. Selbstverständlich gaben wir
uns sofort als ehemalige Luftwaffen-Kameraden zu erkennen. Auf unsere
Anfrage, wie es den deutschen Kriegsgefangenen in Bulgarien erginge, erfuhren
wir, dass Bulgarien überhaupt keine Gefangenenlager unterhalte. Entweder
seien alle deutschen Soldaten rechtzeitig außer Landes gekommen, oder man
habe etwaige Restverbände nach Russland verbracht. Also war das nichts mit Bulgarien.
Zum Trost gab es aber Zigaretten, reichlich Zigaretten; sogar unsere Hausmarken
TOMASIAN und KARTEL. Und immer, wenn eine bulgarische Maschine einflog, und wir
kannten bald ihre Zeiten, schleppten Helmut und ich völlig unnützes Zeug an den
Landepunkt, und jedes Mal waren wir wieder mit Zigaretten versorgt. Eines Tages herrschte große Aufregung am Tower. Eine DC2 mit englischer
Crew war ausgerollt. Das war zwar nicht alltäglich, aber auch nicht
ungewöhnlich. Ungewöhnlich, sagen wir ungeheuerlich, war eine Entdeckung
des Bodenpersonals: Unter der Tragfläche an der Einstiegseite
hatte jemand mit großen kyrillischen Buchstaben "DOLE TITO -
ŠIVIO KRAL PETAR" in den
Staub geschrieben. Übersetzt heißt das "Nieder mit Tito - es lebe König
Peter". Eine Bombe aufs Flugfeld hätte nicht mehr Aktion ausgelöst, als
diese Verunglimpfung ihres großen Marschalls. Das überstieg bei weitem die
Verwerflichkeit einstiger Majestätsbeleidigung. Die Maschine bekam einen
Abstellplatz zugewiesen. Die Crew durfte das Cockpit nicht verlassen. Es dauerte nicht lange, da erschienen englische Militärfahrzeuge am
Flugfeld. Die englische Besatzung wurde mit Verpflegung und Getränken
versorgt. Die Vertreter der englischen Mission dekorierten ihre Servierplatten
wie bei einem kalten Buffet. Den jugoslawischen Wachposten, die die DC2
umstellt hielten, muss das Wasser kübelweise im Munde zusammengelaufen sein. Allmählich fragte man sich, wie lange die Platzherren diesen Belagerungszustand
aufrechterhalten wollten. Ich glaube, der grazilen Rothaarigen hinter
dem Steuer eines Jeeps ist es gelungen, neuen Schwung in die offensichtlich
festgefahrene Situation zu bringen. Sie saß ganz allein im Fahrzeug,
als sie auf das verschlossene Tor des Flugplatzgeländes zusteuerte. Die beiden
Wachposten nahmen sie auch da noch nicht zur Kenntnis, als die Lady heftig
zu hupen begann. - Keine Reaktion. - Das war's dann wohl. Zornig legte sie den
Rückwärtsgang ein, setzte um etwa zwei Straßenbreiten zurück, und dann
donnerte sie durch das verschlossene Tor, dass es nur so krachte. Die
beiden Posten hechteten mit kühnem Sprung in Deckung. Der Jeep aber schien für
diese Art von Schlüsseldienst wie geschaffen. Als wäre nichts geschehen, rollte
die rothaarige Lady in die Richtung, in der sie ihren Landsleuten ihre
Aufwartung machen wollte. Diese Weiber! Nach diesem Zwischenfall musste nun wohl etwas geschehen. Die energische
Intervention der jungen Dame schien doch so viel Wirbel ausgelöst zu haben,
dass der gesamte Vorgang endlich auf einen Tisch gelangte, an dem wirklich
etwas entschieden werden konnte. Und man entschied. Man ließ diese alberne
Belagerung kurzerhand abblasen. Die Herumtreiberei im Bereich der Flugabfertigung wurde uns verboten.
Auf unsere Arbeitshaltung, allerlei Schrott auf den Schultern tragend,
fiel niemand mehr herein. Vielleicht hatte auch die peinliche Englisch-Story
dazu beigetragen. Jedenfalls durften wir uns nicht mehr dort sehen lassen.
So fielen auch die Begegnungen mit dem bulgarischen Flugpersonal flach. * Anfang März hatte ich meinen Geburtstag. Genau fünfundzwanzig Jahre
wurde ich alt. Ich hatte aber noch gar nicht an diesen Geburtstag gedacht,
als schon am frühen Morgen Helmut mit einer einfachen Nickelbrille, Wehrmachtsmodell
O8/15, zu mir kam. Er fragte, wie ich durch diese Brille sehen könne. Na gut,
ich setzte sie auf und sah nach einem Jahr erstmals meine Umgebung wieder klar
und deutlich. Das war ein unbeschreiblicher Augenblick. Am liebsten hätte
ich die Brille nicht mehr von der Nase genommen. Helmut verzog keine Miene, als
er die Brille zurücknahm, um sich gleich danach mit Heinz Feller zu betuscheln.
Nach der Frühstückssuppe erschienen beide mit einem Päckchen und
gratulierten mir zum Geburtstag. Noch völlig ahnungslos faltete ich das
Zeitungspapier auseinander, und fast wäre mir diese kostbare Brille noch
auf den Betonboden gefallen. Ich hatte wieder eine Brille! Und das als
Geburtstagsgeschenk von meinen Freunden. Was werden die beiden dafür
bezahlt haben? Es gab ja nur ein Zahlungsmittel, und das waren Zigaretten.
Seitdem wir nicht mehr auf das Flugfeld durften, blieben die bulgarischen
Zigaretten aus. Für zwei dieser verfluchten Glimmstängel musste man sage und schreibe
eine ganze Tagesration Brot hergeben. Und die zwei waren doch solche Fresser.
Wenn ich das auch alles noch nicht begreifen konnte; ich sah wieder alles klar
und deutlich. Ich fühlte mich wie neu geboren. Wenige Tage später, als ich ganz durch Zufall einen Erkundungsbummel zwischen
den Unterkunftsbaracken der hier stationierten Soldaten unternahm, machte
ich eine Beobachtung, die mich sehr berührte. Auch Helmut und Heinz Feller
pirschten durch das Barackengelände. Bei einer Dranktonne blieben sie stehen,
schauten sich kurz nach allen Seiten um und schöpften mit ihren Kochgeschirren
aus den angesammelten Essensresten der Soldaten. Ich war entsetzt;
dachte aber sofort an meine Brille. Ganz sicher war dieser Schweinsfraß
jetzt und für die nächste Zeit ihr Brotersatz. Es drängte mich, dieses Treiben weiter zu beobachten. Allein bei dem
Gedanken, diesen vergammelten Fraß herunterzuwürgen, hätte ich schon
die Gelbsucht kriegen können. Es war tatsächlich so, dass dieser
Schlenker quer durchs Kasernengelände schon zur täglichen Gewohnheit
geworden war. Aber das war noch nicht alles. Die Soldaten lauerten feixend
hinter den Fensterscheiben und verschwanden sofort, wenn meine Freunde
aufkreuzten. Nun, so spaßig war diese Gammeltour ja auch wieder nicht. Hinter dieser
genüsslichen Feixerei musste mehr stecken. Also setzt ich mich regelrecht an.
Schon am nächsten Tag erfuhr ich, was da so viel Freude brachte. Kurz bevor
meine Freunde auf der Bildfläche erschienen, wurde der Inhalt der Tonnen fleißig
bepinkelt. Mir drehte sich fast der Magen um. Und da kamen sie auch schon
wieder angewackelt, ihre Kochgeschirre in Feuerstellung. Ich konnte nicht mehr
hinschauen. Was sollte, was konnte ich tun? - Ich wusste ja, dass Helmut gerade mir
gegenüber außerordentlich empfindlich war. Und wie konnte überhaupt
Heinz Feller so etwas mitmachen? Nun ja, seine Brotportionen der nächsten
Zeit waren ja auch in meine Brille investiert worden. Meine Brille wurde
offensichtlich in bequemen Raten abbezahlt. Aber das half ja alles nichts. Aus diesen Abfalltonnen konnten oder würden
sie sich noch den Tod holen. Ich musste mit meinen Beobachtungen herausrücken. Ich tat's, und die Resonanz war katastrophal. Ich war mit Helmut allein.
Ich formulierte meine Worte mit Bedacht. Aber Helmuts Gesicht wurde hart
und abweisend. Und dann schrie er mich hysterisch an. Wie er sich mit einem so
vornehmen Pinkel überhaupt habe einlassen können. Ehe man sich mit einem
solchen Blindgänger türmend auf die Socken mache, würde man sich besser gleich
aufhängen. So und noch schlimmer ging das eine Weile, bis er sich wieder
in der Gewalt hatte. Ich stand da und wusste zu allem kein Wort zu sagen. Ich
war ja schon froh, dass er nicht auf die Brille zu sprechen kam. Wie sollte das jetzt weitergehen. Wenige Stunden nach dieser Aussprache
ließ Helmut mir mit Absicht einen schweren Heizradiator auf den Fuß fallen. Das
langte fürs Krankenrevier. Mein Fuß sah gar nicht gut aus. *** |