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THEMA: Liselotte Rauner (+)
9 Antwort(en).
Literaturfreund
begann die Diskussion am 04.07.05 (10:32) :
BOCHUM dpa/taz (am 4.7.05)
Die Gründerin der einzigen privaten Literaturstiftung in NRW, Liselotte Rauner, ist am Samstag im Alter von 85 Jahren in Bochum gestorben. Dies teilte der Verband deutscher Schriftsteller (VS) gestern in Herne mit.
Rauner, die seit 1948 in Bochum lebte, hatte sich nach einer Gesangs- und Schauspielausbildung ganz der Literatur zugewandt und Kurzprosa, Lyrik, Epigramme und Chansons geschrieben. 1986 hatte sie als erste Preisträgerin den renommierten "Literaturpreis Ruhrgebiet" erhalten. Sie galt als eine der bekanntesten Lyrikerinnen des Ruhrgebiets.
Mit ihrer klaren, oft humorvollen Sprache habe die Lyrikerin dem Ruhrgebiet in der Literatur eine eigenwillige, humane und damit unverwechselbare Stimme gegeben, würdigte der Schriftstellerverband die Verstorbene. Die 1998 gegründete "Liselotte und Walter Rauner-Stiftung" fördert junge Lyriker in NRW.
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Literaturfreund
antwortete am 04.07.05 (10:34):
Liselotte Rauner: Aufsatz über den Frühling
Ich muss für morgen einen Aufsatz schreiben Wenn ich nichts weiß, gibt’s eine vier Der Lehrer sagt, dann werd’ ich sitzen bleiben Mit fällt nichts ein zum Frühling im Revier
Es gibt in unserem Viertel, wo wir wohnen Nicht eine Blume, überhaupt kein Grün Ich weiß nicht, wo die bunten Anemonen Und wann die ersten Löwenzähne blühn
Ich sah noch nie ein Vogelpärchen nisten Hier wächst kein Baum, auf dem man klettern kann frag' ich den Vater, sagt er, ja wir müßten mal wieder raus ins Grüne - aber wann
Er macht ja immer soviel Überstunden da hat er für den Frühling keine Zeit am Wochenende tapeziert er Kunden die Wohnung bunt, das nennt man Schwarzarbeit
Von Mutter kann ich auch nicht viel erfahren vom Frühling - doch sie sagt, dann schreib mal hin er hilft die Licht- und Heizungskosten sparen mehr ist nicht drin
* URL. - Lyrik "auffem Deckel":
Internet-Tipp: https://www.deckel.info/img_deckel/deck_hinten_944
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Literaturfreund
antwortete am 04.07.05 (10:36):
Liselotte Rauner: Türkischer Kaffe.
Ich kam Punkt drei Uhr in die Halle. Heidi war schon da. Wir hatten noch Zeit für eine Tasse Kaffee. Unser Zug fuhr erst in einer halben Stunde. Also rein in den Wartesaal.
"Sieh dir das doch an", sagte Heidi, "alles Gastarbeiter. Die tun, als ob sie hier zu Hause wären. Jeden Tisch haben sie belagert. Wenn du dich zu denen setzen willst...." "Warum denn nicht?" Wir fanden noch zwei freie Stühle. Hatten auch Platz genug für unser Gepäck. Die Männer rückten etwas zur Seite. Türken, dachte ich. Man kannte sie aus, mit der Zeit. Auch ohne fremde Sprachen zu verstehen. Eine Türkin macht meine Röcke kürzer oder länger. Je nach Mode. Die Mülltonnen leert ein Mann aus Athen. Das Heizöl füllt ein Iraner in den Tank. Mein Arzt im Spital war aus Ghana. Und gesund gepflegt hat mich eine Koreanerin. Da hat oft eine Geste genügt. Und ein Lächeln kann mehr sagen als Worte.
"Es wird Zeit für uns", sagte Heidi. Der Ober ließ auf sich warten. Wir legten das Geld auf den Tisch. Die Türken wünschten uns gute Fahrt. Da ahnte ich noch nicht, dass meine Reise bald zu Ende war. Wir hatten ein Abteil ganz für uns. Ich konnte also in Ruhe lesen." Fass mal an", sagte Heidi. "Die Koffer müssen nach oben. So jetzt noch die Beutel und das Radio. Noch was?" "Ja...., wo ist meine Tasche?" "Sag bloss, die hast du zu Hause liegen lassen." "Nein...., im Wartesaal." "Bei den Türken? Dann ist sie weg. Was war dann drin?" "Fahrkarte und Pass und Geld für den Urlaub." "Das siehst du nicht wieder. Die Türken haben doch alle kein Geld. Die Hälfte ihres Lohnes geht in die Türkei. Ihre Kinder und Frauen wollen ja auch leben. Und dann die teuren Mieten hier. Gastarbeiter müssen ja für ein Zimmer mehr zahlen als wir für drei." Als der Zug hielt, stieg ich aus. Eine Stunde später war ich wieder in Bochum.
Der Beamte, den ich fragte, machte mir Mut. "Hier bleibt jeden Tag was liegen. Viele Leute holen ihre Sachen nicht mal ab. Die glauben wohl nicht an ehrliche Finder."
Der Beamte nahm mich mit in sein Büro. Hier lag nichts vor. Das heisst, meine Tasche war nicht da. Ein junger Mann hob den Hörer ab. Er fragte: " Ist bei euch was abgegeben worden? So, eine Tasche? Aha, was für eine....? Gut, ich rufe wieder an."
Gott sein Dank, sie war also da. Der Beamte nahm Kuli und Papier. Es waren noch ein paar Angaben nötig. "Also, wie sah Ihre Tasche denn aus? Grösse...? Farbe...? Inhalt...? Schön, das genügt. Kann ich dann bitte Ihren Ausweis haben?" "Der ist doch in der Tasche." "Ach, ja, das wäre denn alles. Wir rufen Sie an. Ich meine, wenn sich Ihre Tasche findet." "Aber sagten Sie nicht eben, sie wäre da?" "Es ist eine Tasche hier. Sie gehört aber nicht Ihnen. Es tut mir leid."
Ich stand wieder in der Halle. Da war wohl nicht mehr zu hoffen. Man gibt seinen Fund gleich ab oder gar nicht. Jetzt brauchte ich einen Kaffee. Gut, dass Heidi mir Geld gegeben hatte. Ich ging in den Wartesaal. Sah sofort, dass die Türken noch da sassen. Aber einer fehlte. Ich fragte die beiden Männer nach meiner Tasche
Es sah aus, als freute sie meine Frage. "Ja, Tasche hier, alles gut!" Mir fiel ein Stein vom Herzen. Da spielten mir die Türken eine kleine Szene vor. Mit Händen und Füssen. Jetzt war mir alles klar. Der dritte Mann hatte die Tasche. Er war aber nicht mehr hier. War weg damit, auf und davon. Heidi hatte recht. Ich nahm ein Taxi, fuhr nach Hause. "Schön, dass du wieder da bist", sagte Mutter. "Du hast Besuch. Komm mal rein, es gibt türkischen Kaffee." Im Wohnzimmer sass der dritte Mann. Er stand auf, sagte: "Bitte schön, Ihre Tasche." *
Internet-Tipp: /seniorentreff/de/PlkC3xw1c
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Literaturfreund
antwortete am 04.07.05 (14:10):
Zwei der schönsten Gedichte (wie ich es finde) von der Rauner:
Liselotte Rauner: Nutzholz
Wir schlagen die Wälder Tag für Tag und treffen uns selber mit jedem Schlag Was aufrecht grüne Kronen trägt gefällt entlaubt geschält zersägt wird Nutzholz - wird Papier und darauf schreiben wir Gedichte über Bäume damit die nach uns kommen erfahren wie wunderbar die Wälder waren (1978)
In unserer Obhut
Ich habe einen Schmetterling gesehen noch nicht vergiftet noch nicht aufgespießt beinahe hätte ich gesagt: so quicklebendig wie ein Fisch im Wasser so arglos wie ein Kind in unserer Obhut (1979) * Aus: L. R.: Kein Grund zur Sorge. Oberhausen 1985.
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marie2
antwortete am 04.07.05 (20:47):
Er hat alles sie hat alles wenn das alles ist ist das zu wenig Er hat nichts sie hat nichts wenn sie das miteinander teilen wird das zu viel Er hat sie sie hat ihn wenn sie genug davon haben fehlt ihnen etwas Er hat eine sie hat einen wenn sie das miteinander teilen haben sie etwas Gemeinsames.
-Lieselotte Rauner-
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Enigma
antwortete am 05.07.05 (10:41):
Mir gefällt sie auch sehr. Eines ihrer Gedichte fand ich im Internet:
75. Tag Krieg um Kosovo: Hört endlich auf zu bomben! Lieselotte Rauner Beine
Wir werden dir Beine machen droht man in der Kaserne wir werden dir Beine machen tröstet man im Lazarett
Aber irgendwo habe ich noch ein Gedichtbändchen von ihr. Ich werde mich mal auf die Suche danach machen.
Internet-Tipp: https://efg.wtal.de/fried/ksv_75.htm
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marie2
antwortete am 05.07.05 (19:14):
Ein Ernstfall
unser Mut heißt Mut zur Mode unsere Kraft heißt Kaufkraft unsere Bildung heißt Vermögensbildung unser Bewusstsein heißt Verbraucherbewusstsein unsere Moral heißt Arbeitsmoral unser Bedürfnis heißt Ruhebedürfnis unser Verständnis heißt Einverständnis unser Wille heißt nicht Wille zur Veränderung? Unser Fall ist ein Ernstfall
Lieselotte Rauner
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Enigma
antwortete am 07.07.05 (16:18):
Jetzt habe ich mein Gedichtbändchen (Schleifspuren) auch wiedergefunden und etwas darin gelesen.
Das hier hat mich auch angerührt:
Liselotte Rauner Vertreibung
Er hängt - sagt er - an jedem Beet an jedem Baum in seinem Garten Er wollte sich nicht mehr verändern.... Wir haben ihm die Vorteile erklärt den Altersstarrsin ausgeredet seinen Köter engeschläfert seine Tauben in gute Hände gegeben und den Umzug vorbereitet Er brauchte sich um nichts zu kümmern Alles haben wir ihm abgenommen... Als wir ihn holen wollten hing er an einem Baum in seinem Garten
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Enigma
antwortete am 09.07.05 (10:52):
Liselotte Rauner aus "Schleifspuren" Denkpause
Als mein Vater mich zum erstenmal fragte was ich mal werden will sagte ich nach kurzer Denkpause "Ich möchte mal glücklich werden" Da sah mein Vater sehr unglücklich aus aber dann bin ich doch was Anderes geworden und alle waren mit mir zufrieden.
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Enigma
antwortete am 10.07.05 (10:54):
Noch eines aus dem gleichen Bändchen:
Lebenslauf
Auf Füßen und auf Händen von Fall zu Fall lernte ich gehn und an den Gitterwänden des Laufstalls aufrecht stehn
Beim ersten Schritt ins Freie tanzte ich schon - noch unbeschwert und arglos - aus der Reihe .... die Ordnung war gestört!
Da merkte ich, daß Enge auch außerhalb der Gitter war Behinderungen, Zwänge Verbote und Gefahr.
Ich stieß mit meinen Ecken mich wund an jedem Widerstand in solcher Haut zu stecken macht jeden Schritt riskant
Gebrochen und geschliffen wurde ich doch kein Edelstein nach Handelswertbegriffen bin ich nicht lupenrein.
Die Schleifspuren beschreiben vom ersten bis zum letzten Jahr wie schwer das Aufrechtbleiben im Lauf des Lebens war.
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